Auszug eines Gedanken

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17.02.2005
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Ort
Lippstadt//München
Du schlägst die Augen auf. Du blickst auf eine schlichte weiße Wand. Nein, keine Wand, eine Decke.

Du richtest dich auf. Blut läuft deine Arme hinunter, über deine Hände auf den grünen Linoleumboden. Du spürst … nichts.

Du stehst. Ein rascher Blick lässt dich deine Umgebung Wahrnehmen. Links Tafel, rechts Stühle und Tische, geradeaus eine Tür, daneben ein Waschbecken und Spiegel. Deine Beine tragen dich wie von selbst zu dem Waschbecken. Blut tropft von deinen Händen und wird eine Spur auf dem Boden.

Du schaust in den Spiegel. Ein Gesicht verschwommen, als ob die Luft vor Hitze flimmern würde, erwidert deinen Blick. Du kannst das Spiegelbild nicht erfassen, manchmal jedoch wird das Gesicht klar um, daraufhin direkt wieder zu verschwimmen. Es ist dein Gesicht, aber auf eine merkwürdige Art auch nicht.

Du erkennst warum es von deinen Händen tropft. Aus zwei Löchern in deinen Schultern quillt dein Lebenssaft, rot und schrecklich. Dein ehemals weißes Oberteil hat sich rot gefärbt. Du ziehst es aus, reißt es entzwei und verbindest deine Wunden. Kein Schmerz. Du betrachtest dein Werk im Spiegel. Die Blutungen sind verlangsamt. Gut. Du wirst noch ein wenig Zeit brauchen. Deine Brust hebt und senkt sich bei deinen Regelmäßigen Atemzügen, aber deine Muskeln sind zum zerreißen gespannt. Es ist Zeit.

Du trittst aus der roten Tür und stehst im Treppenhaus. Wie von ferne dringt ein Schrei an deine Ohren. Du beginnst den Abstieg. Mit dem ersten Schritt auf die oberste Treppenstufe wechselt der Untergrund von grünem Linoleum zu weißen Stein. Blutstropfen fließen immer noch von deinen Fingerspitzen zu Boden. Weiß-Rot. Der Kontrast gefällt dich besser.

Du stehst im Erdgeschoss. Rechts eine Tür in das Gebäude rein, links eine aus dem Gebäude raus, eine Baustelle direkt vor dir. Jemand hat versucht die weißen Steinplatten zu entfernen, vielleicht um sie auszutauschen. Nicht wichtig. Der Jemand hat in seiner panischen Flucht vergessen aufzuräumen. Sein Werkzeug, ein brachialer Vorschlaghammer liegt vor dir. Das ist wichtig.

Du hebst ihn auf, schwingst ihn probeweise. Funktioniert. Wieder ein Schrei. Von draußen. Du drehst dich in die Richtung, drückst die Tür mit der linken auf, mit der rechten ziehst du den Hammer hinter dir her.

Gleißendes Sonnenlicht strahlt dir ins Gesicht, und eine drückende Schwüle umgibt dich. Leicht abschüssiges Gelände liegt vor dir. Links eingerahmt von dem Gebäude, rechts von immergrünen Hecken. Ein Weg aus mit Steinen versehenen Betonplatten, gesäumt von Rasen, gibt dir deine Richtung vor. Du biegst um eine kleine Kurve.

Dein Weg mündet in eine orthogonal verlaufende Straße. Auf der anderen Straßenseite ein Kiosk, seine zufahrt gesäumt von grünen Hecken. Du erblickst ihn, zum ersten Mal erblickst du ihn. Seine hochgewachsene Gestalt zeichnet sich klar vor der Kulisse ab. Der namenlose Gegenspieler steht in ein paar Metern Entfernung vor dir, auf deinem Weg, dir den Rücken zukehrend. Verschwommene Personen mit Frauengesichtern kauern auf dem Boden oder hinter den Hecken der Kioskzufahrt. Das blanke Entsetzen steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Du weißt was zu tun ist.

Du fühlst nichts, als du deinen Hammer fester packst und hinter dir her schleifst. Jemand spielt Steve Vai´s „Bad Horsie“. Die Realität verschwimmt, wie Filmfehler in einem alten Projektor, zuckt dein Sichtfeld immer wieder.

Das schleifende Geräusch des Metallkopfs deines Hammers vermischt sich mit denen der Gitarre und wird zu einem Einklang. Deine Schultern zusammengesunken näherst du dich deinem Feind. Er hört und sieht nichts. Er labt sich an dem Schrecken den er mit seiner .357 Magnum verbreitet. Der Stahl der Waffe blitzt im hellen Tageslicht auf. Beinahe stolpernd legst du die letzten Schritte zurück. Du bist in Reichweite. Oh nein. Das wäre zu einfach. Ein Ruf deinerseits: „Hey, Schwanzgesicht!“ lässt den Antagonisten herumfahren. Du blickst in sein Gesicht, es scheint verschwommen. Ein gesichtsloser Feind. Er reißt seine Waffe herum. Verdammt schnell. Im gleichen Augenblick packst du deinen Hammer mit beiden Händen und lässt ihn in Richtung Verschwommenheit schnellen.

Gellende Schreie, Blut spritzt. Zähne fliegen aus einem Gesicht, Knochen brechen wie verdorrte Äste. Der Gesichtslose fällt dir zu Füßen in den Staub deines Weges. Die Magnum entgleitet seinem Griff und schlittert über den Boden. Du stehst über dem Besiegten, blickst in den Haufen Matsch der vor wenigen Augenblicken noch ein Gesicht war, und richtest dich auf, streckst dich zu voller Größe, nimmst die Schultern zurück. Dein Körper glänzt vor Schweiß und Blut, du bist der Rachegott. Der Film, den deine Augen aufnehmen, ist wieder frei von Fehlern.

Du greifst in deine Hosentasche, ziehst ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug hervor, und rauchst eine genüsslich. Die verschwommenen Personen mit den Frauengesichtern kommen näher. Ein wunderschöner Tag.

Ich blinzle. Einklinken Fehlgeschlagen. Dramatische klassische Musik dröhnt aus dem 5.1 Plastikbrüllwürfelsystem. Ich seufze, drücke Alt + Tab. Die klassische Musik verstummt. Nichts neues, keine Nachricht. Ich kontrolliere meinen Posteingang. Toll, Penisvergrößerungsgeräte und Viagra. Ich nehme mein LG Chocolate zur Hand, schiebe den Bildschirm hoch und entdecke, dass es nun ein paar Minuten später ist als bei meiner letzten Kontrolle. Ansonsten nichts. Ich blicke mich um. Ein Haufen Flaschen und dreckiges Geschirr liegen auf meinem Schreibtisch, rechts von mir läuft der Fernseher. Ich drücke noch einmal Alt + Tab und die klassische Musik setzt wieder ein.

Ein Gefühl macht sich breit. Klar und bestimmt, wie ein anbrechender Tag.
 
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