16. Juli 2005

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16. Juli 2005



10.54 Der hoch über uns stehende Quell allen Lebens hat fast seinen Zenit erreicht. Die Luft ist schwül und der wolkenfreie, azurblaue Himmel lässt die Sonnenstrahlen ungehindert auf den Boden strahlen. In der Ferne lassen sich gedämpfte Motorengeräusche vernehmen, die aber neben einem unaufhörlichen Gezirpe zur Nebensache geraten. Vereinzelt gesellt sich ein Aufschrei mutiger Spatzen hinzu. 11:06 Das Zirpen mischt sich mit einem immer lauter werdenden Schwall von unverständlichen Lauten. Ein süßlicher Geruch liegt in der Luft. Am Horizont erscheint ein Meer von abgewetzten alten Bettlaken, Tischdecken und Badetüchern, die einen provisorischen Schutz vor der unaufhörlich brennenden Sonne bilden sollen. Unter ihnen tummeln sich Menschenmassen, die sich aus der Ferne offenbar völlig ziellos bewegen. Die unverständlichen Laute entpuppen sich langsam als Fußgescharre und Gemurmel, aus denen predigerartige, sonore Sprechgesänge hinausragen.

Ich betrete den Wochenmarkt einer am Mittelmeer liegenden, vergleichsweise kleinen, türkischen Stadt. 11:17 Ich reihe mich ein, doch ein Verschmelzen will mir als Blondhaariger nicht gelingen. Auf dem Markt zeigen sich mir die zwei Gesichter der Türkei. Auf der einen Seite vor allem Jugendliche gekleidet in Markenprodukten von Billabong, Calvin Klein oder Levis, wobei vor allem die Frauen selbstbewusst auftreten, auf der anderen Seite der patriarchalische Vater vorneweg stolzierend, während seine Frau und seine Töchter, mit einem Kopftuch bedeckt, die erstandenen Waren tragen.
Ein süßlicher Duft steigt mir in die Nase. Zu meiner rechten eröffnet sich ein Obststand voller Köstlichkeiten. Knackige Pfirsiche, prallrunde Wassermelone, süßlich duftende Nektarinen, knallrote Kirschen und viele andere Leckereien. Ich beschließe ein Kilo Pfirsiche und Kirschen mitzunehmen. 11:27 In der Mitte der Straße sieht man immer wieder kleine Kaufmannskarren, die einem Spielereien wie Mundharmonikas oder Djemben verkaufen wollen. Ich bewege mich weiter im Fluss der Masse. Kleine Kinder quetschen sich spielend und lachend überraschend leichtfüßig durch die Menschenwand hindurch. Ich erblicke einen Käsestand. 11:36 Nach der Probe von geschätzten 15 Käsesorten entscheide ich mich für einen gut gewürzten, weichen Schafskäse und einen trockenen Hartkäse. Direkt daneben erstreckt sich ein endlos erscheinender Stand voll verschiedener Nüsse. Die Hälfte ist mir gänzlich unbekannt und ich erkenne lediglich das typische Studentenfutter von Pinnyenkernen über Pistazien und gesalzenen Erdnüssen. Ich nehme eine bunte Mischung.
11:43 Ich gehe weiter. Ein Mann stößt mich von hinten an. Ich drehe mich um. Er entschuldigt sich nervös auf schnellem Türkisch. Ich setze meinen Weg fort. Trikots von Bayern München, Chelsea London, Besiktas Istanbul und vom FC Barcelona springen mir ins Auge. 11:50 Nach kurzen Verhandlungen erstehe ich ein Trikot von London und eines von Juventus zum Preis von einem. Trotzdem glaube ich, hat er noch ein gutes Geschäft an mir gemacht. 11:55 Das Gewicht der Einkäufe zerrt immer stärker an meinen Armen und die Hitze an meinen Kräften. 11:58 Ich begebe mich in ein kleines Cafe, abseits des ganzen Trubels. Pinnyenbäume spenden wohltuenden Schatten und ein laues Lüftchen weht mir ins verschwitzte Gesicht. 11:58:30 Ich bestelle einen Apfeltee und blicke mich um. Das Cafe ist relativ leer. Nur zwei alte Männer die Backgammon spielen und eine Mutter mit zwei Kindern. 11:59:10 Ein betagter Herr bringt mir meinen Tee. Ich bedanke mich und werfe zwei Stücke Würfelzucker hinein. Sie lösen sich auf. 11:59:38 Das Gezirpe der Grillen übertönt wieder das bunte Markttreiben. Ich verbrenne mir meine Zunge. 11:59:52 Ich schließe die Augen, lasse die Tage Revue passieren. Das hypnotisierende gleichmäßige Zirpen entführt mich ins Reich der Träume. Der Wind weht mir durchs Haar. Ich strecke meine Füße aus, lehne mich zurück. Denke an den Strand, an den wunderbar weichen Sand, an das kristallklare, blaue Wasser. Ich erinnere mich an das Rauschen des Meeres, an das wunderbare Gefühl der Abendsonne auf der eigenen Haut und das glitzernde Spiel der Farben der rötlich untergehenden Sonne auf der Wasseroberfläche…..
……12:00:00 Piep, Piep, Piep… piep, piep, piep. Ich schrecke hoch. Meine Armbanduhr reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich blicke mich um und sehe die alten Männer spielen; sehe die Mutter mit ihren Kindern; höre das Geklapper von Geschirr; höre das Zirpen der Grillen mit ihrer stoischen Ausdauer. Der hoch über uns stehende Quell allen Lebens hat seinen Zenit erreicht. Die Luft ist schwül. Alles ist wie immer. 12:00:07…..


……..BOOOOOOM


Die Welt scheint still zu stehen. Selbst die Grillen haben aufgehört zu zirpen.
 
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