Jandl - >Gedichtinterpretation - >Kopfschuss

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Da kommen sie gelaufen

Wenn ein Hund verreckt auf der Strasse,
So ein Hund, der nur ein Haufen Dreck ist,
Da kommen sie gelaufen:
Da will jeder etwas wissen
Da will jeder etwas besser wissen:
Was man hätte tun sollen.
Was man jetzt noch tun kann.
Was man tun soll mit den Leuten,
Die ihn hier verrecken lassen
Mitten auf der Strasse, armes Tier.
Da kommen die Prediger,
Die überall sein müssen,
Die über dabei sein müssen,
Die überall mitreden müssen.
Da kommen die alten Weiber,
Die immer beten müssen,
Die immer Rosenkranz beten müssen,
Die immer Tränen drücken müssen,
Aus Zitronengesichtern.
Ganz langsam verreckt der Haufen Hund
Und der Rauch steigt blass auf
Wie von warmem Mist
Auf gefrorenem Pflaster.

Wenn ein Mensch auf der Bank liegt,
Plattgedrückt, und der Kopf hängt über den Rand,
Und die Augen sind halb offen und schwarz
Von fliegen, und die Haut ist ihm zu gross,
Sein Gesicht hat keine Wangen, sein Rock
Eine Uniform, die keiner mehr anhat,
Nur einer auf der Band, der den Atem
Lang anhält:
Wenn einer auf der Bank so
Den Atem lang anhält,
Kommen sie nicht gelaufen.
Da will keiner etwas wissen,
Da will keiner etwas besser wissen:
Was man hätte tun sollen – aber was nützt das?
Was man jetzt noch – aber jetzt kann man nicht.
Was man tun soll mit den Leuten -
aber wer sind die Leute?

Ernst Jandl

(Jandls erste Nachkriegsveröffentlichung in >>publikationen<<, Sept, 1952)


Quelle: http://www.ernstjandl.com/gedicht_dakommensiegelaufen.html


Joa, dass sich der Mensch mehr um Tiere kümmert als um andere Menschen?

Oder das man bei der Judenvergasung, das einfach alles verdrängt hat?


PLZ, help!!
 
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du willst eine pauschale aussage?
sind das deine hausaufgaben oder was? referat?
von mir kriegst du ein paar brainstorm-gedanken. ich werde nichts recherchieren und auch nichts ausformulieren... wenn du mit mir drüber reden willst und auch ein bisschen mehr engagement kommt als zwei lieblose theorien dann können wir gern drüber reden.
es geht hier also um "zivilcourage" - oder echte teilnahme oder gar reaktion / gegenlenken zu leid eines anderen lebewesens / menschens.

ich denke, dass der zeitliche kontext (kurz nach dem krieg) zwar eine rolle spielt - sich das gedicht aber mehr auf eine generelle beobachtung menschlichen verhaltens bezieht als direkt auf die vergasung von juden.
das gedicht ist natürlich in seinen beiden strophen ein sehr schöner parallelismus.

die charakterisierenden anaphern "die immer" spiegeln sehr schön die masse der sorglosen bevölkerung, die einfach vorbeiläuft - sich nicht um elend kümmert.

die gegenüberstellung des verhaltens bei einem sterbenden hund zu einem sterbenden menschen zeilt wohl auf die angst vor echtem schmerz und dem daraus resultierenden "es muss sich etwas ändern"-gedanken, der mensch ist faul - ein gewohnheitstier. die frauen beten ihren rosenkranz und die prediger quatschen, aber wenn sie das elend eines menschen sehen, dann gehen sie lieber vorbei bzw. "verschließen die augen". ein hund erregt noch das profane mitleid - das elend der mitmenschen würde wirkliches mitgefühl und weiterführend eigenes engagement erfordern.

"diese menschen" die mit dem finger zeigen bei dem "armen hund" - "Was man tun soll mit den Leuten,
Die ihn hier verrecken lassen" sind dann eben dieselben menschen die einfach vorüber gehen beim elend eines menschen.

ich finde den schluss besonders gelungen, wo er mit den beiden ersten fragen und antworten das typische gesellschaftliche suchen nach einem schuldigen und abkanzeln eben dieser frage simuliert - eine schnelle antwort wird gegeben, damit man sich ja nicht länger mit dem elend und seinem grund befassen muss.
interessant ist auch, wie sehr die beschreibung des menschen an den "Haufen Dreck" erinnert, mit dem der hund in der ersten strophe verglichen wird und wie der vermeintliche tod dieses menschen mit den untertreibenden worten "lang den atem anhält" beschrieben wird, so wie sich die vorbeigehenden menschen die sache "beschönigen" um nicht den stehen bleiben zu müssen.

zur sprache ist zu sagen, dass sie sehr bildlich ist und dadurch sehr bedrückend wirkt. die rhetorische frage aus dem mund "dieser leute" die dann eben im kopf des lesern mit einem "wir" bzw. "ihr" beantwortet wird lässt einen sehr bedrückenden geschmack beim leser zurück.

um ganz ehrlich zu sein: so manches was ich hier egschrieben habe kann auch falsch oder minder gut interpretiert sein aber das gedicht ist VOLL von bildern, bezügen und typischen stilmitteln (anaphern, alliterationen, usw.)
wenn du das ausführlich und gut machen willst/musst, solltest du zunächst eine formanalyse anfertigen - wie gesagt, wenn ich zeit habe und ich ein bisschen mehr elan von dir spüre, dann helf ich dir gerne - ohne gewähr. da sollte ich aber erstmal wissen, ob das eine hausaufgabe ist, oder was ernsteres - wieviel zeit / textseiten du zur verfügung hast, usw.
 
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Geht um ne Abschlussprüfung. Wir müssen zu jedem Buch und zu jedem Gedicht, dass wir lesen müssen einen Textausschnitt liefern und damit 2 Hypothesen aufstellen, diese dann auch begründen und dann überprüft der Experte, ob wir sattelfest sind und ob die Hypothesen überhaupt stimmen.

Als erstes gilt nur es nur mal 2 Hypothesen zu liefern. Die hast du mir sozusagen auch geliefert, sowie auch mit der Begründung.

Formanalye fällt denk ich bei Jandl eh weg.
Zu sagen wäre nur, dass es sich wahrscheinlich um ne Ballade handelt, da erzählender Charakter.
 
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